45/10 Elfriede Brüning zum 100. Geburtstag!
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
“Berthold sah die langen, hohen Reihen der Bücher auf und nieder. Dies alles war Deutschland. Und die Leute, die diese Bücher lasen, waren Deutschland. Die Arbeiter, die in ihrer freien Zeit sich in ihre Arbeiterhochschulen setzten und ihren schwerverständlichen Karl Marx büffelten, waren Deutschland. Und das Philharmonische Orchester war Deutschland. Und auch das Autorennen auf der Avus und die Arbeitersportvereine waren Deutschland. Aber, leider, auch das Nationalsozialistische Liederbuch war Deutschland und das Pack in den braunen Uniformen. Soll wirklich dieser Unsinn das andere fressen?”
Das Buch beschreibt den Ausbruch des faschistischen Wahnsinns in Deutschland zwischen November 1932 und Spätsommer 1933 am Beispiel einer jüdischen Familie – der Geschwister Oppermann.
Es geht um drei Brüder – Gustav, Martin und Edgar – und um ihre Familien. Alle drei – zwei Eigentümer einer Möbelfabrik und ein Arzt – fühlen sich als Deutsche in Deutschland zuhause. Innerhalb weniger Monate verlieren sie ihren Platz in der Gesellschaft, ihr Eigentum und können ihr Leben nur durch Flucht retten. Sie können zunächst nicht glauben, dass sich das Land, das ihr zuhause ist, an die Barbaren, an die Völkischen, verschachern lassen wird. Erschreckend und heute unbegreiflich ist die Rasanz dieser Entwicklung.
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“Ich habe von je den Ehebruch verabscheut, nicht aber um einer rechthaberischen Moral willen, aus Prüderie und Sittsamkeit, nicht so sehr, weil er Diebstahl im Dunkeln bedeutet, Besitznahme fremden Leibs, sondern weil jede Frau in solchen Augenblicken das Heimlichste ihres Gatten verrät – jede eine Delila, die dem Hintergangenen sein menschlichstes Geheimnis wegstiehlt und einem Fremden hinwirft, das Geheimnis seiner Kraft und seiner Schwäche. … Aber der Körper unter mir gehorchte nicht mehr dem Willen, er wühlte wild in seiner eigenen Lust. Und schaudernd küßte ich die Lippe, die meinen liebsten Menschen verriet.”
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Am Montag ist Elfriede Brüning 100 Jahre alt geworden. Ihr zu Ehren und mit den allerbesten Wünschen zeigen wir nochmal ihre Lesungen für VolksLesen.
Elfriede Brüning hat fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte erlebt – die Weltwirtschaftskrise, den Nazi-Wahnsinn, die Euphorie des sozialistischen Aufbaus, das Verkommen der DDR und ihren Untergang, die Wende, …
Elfriede Brüning kann erzählen. Wir sollten sie ausfragen.
1910 als Tochter eines Tischlermeisters und einer Näherin in Berlin geboren, begann sie bereits mit sechzehn Jahren Reportagen und Feuilletons zu schreiben, die in den großen überregionalen Zeitungen – Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung, Frankfurter Zeitung – erschienen. 1930 war sie in die Kommunistische Partei eingetreten und 1932 wurde sie Mitglied im “Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller”, dem unter anderen Bertolt Brecht, Anna Seghers, Ludwig Renn und Johannes R. Becher angehörten.
In den ersten Jahren des Dritten Reiches arbeitete Elfriede Brüning im kommunistischen Widerstand. Ende 1935 wurde die Autorin inhaftiert; der Prozess wegen Vorbereitung zum Hochverrat gegen sie endete 1937 mit einem Freispruch. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte sie ab 1943 auf dem Gut ihrer Schwiegereltern in der Magdeburger Börde.
Elfriede Brüning kehrte 1945 zurück nach Berlin. Ab 1950 lebte und arbeitete sie als freie Schriftstellerin in der DDR, wo sie in verschiedenen Verlagen sechzehn Bücher herausbrachte und eine viel und gerne gelesene sowie heftig diskutierte Schriftstellerin war.
Ihr bekanntestes Buch heißt „Regine Haberkorn“. Der SPIEGEL schreibt 1956: „Der Facharbeiter Erwin Haberkorn – Romanfigur einer Ostberliner Neuerscheinung – ist nicht der erste Mann, der eines Tages zwischen der Geliebten und der Frau zu wählen hat. Er ist auch nicht der erste, der – nach manchem Hin und Her – dann doch zu seiner legitimen Frau hält. Neu sind indessen Motive und Begleitumstände dieser Entscheidung.“
Der Roman ist auch heute noch lesenswert. Er atmet die Begeisterung für den sozialistischen Aufbau. Gleichzeitig beschreibt er aber auch das, was später zum Scheitern des großen Experiments „Sozialismus“ geführt hat.
Elfriede Brüning hat den Untergang der DDR mit großem Bedauern erlebt. Heute fühlt sie sich, als wäre sie vom Regen in die Traufe geraten. Sie ist eine ganz ungewöhnliche Frau, die nicht mit Verbitterung auf die Vergangenheit reagiert.
Für VolksLesen liest Elfriede Brüning ihren Text „Vom schlimmen Anfang“. 1933 war sie Augenzeugin der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz, heute Bebelplatz, in Berlin. Außerdem haben wir Elfriede Brüning gebeten, aus drei verbrannten Büchern zu lesen.